Volto Santo, eine Pilgerwanderung im August 2017

Das Heilige Gesicht, eine Christusskulptur aus romanischer Zeit in der Kathedrale in Lucca

Einmal im Jahr wird er für die große Prozession heraus geholt und darf frische Luft atmen. Dieser wertvolle Christus und berühmtes Kunstwerk ist die anderen Tage im Jahr eingesperrt in einen vergoldeten Käfig. Zu ihm haben wir uns aufgemacht, ihn haben wir uns als Ziel gesetzt, als wir unsere diesjährige Pilgerwanderung planten.

Wie gut, dass wir nicht ahnten, was uns erwartete – wir wären sonst vielleicht gar nicht aufgebrochen. So aber reisten wir per Bahn nach Pontremoli in Italien / Lunigiana. Nordöstlich von Lucca sind es nur 80 km, unser GPS sagte uns später wir seien 238 km gelaufen.

Schon am ersten Tag in Pontremoli erwartete uns eine keltische Kultur, sie erinnerte uns sehr an unsere Erlebnisse in der Bretagne. Wir sahen in der alten Festung, die heute als Museum dient, Stelen mit einfachen Gesichtern – Augenstelen, die angeblich die größte Sammlung Europas ist. Auch der alte Ort und die Landschaft erinnern sehr an die Bretagne, obwohl das umgebende Gebirge eher Alpencharakter hat.

Über 2200 Jahre sind vergangen seit die Römer hier die Kelten vernichtend geschlagen haben und doch blieben sie in diesem Landstrich in der Erinnerung, ebenso wie weiter südlich die Etrusker.

Als wir uns am zweiten Tag unserer Reise auf den Weg Via del Volto Santo machten, bekamen wir ein Geschenk – eine Heckenschere – sie war unser zuverlässigster und wichtigster Begleiter auf diesem Weg. Die himmelblauen Wegzeichen sind gut zu finden, wir sehen sie! Aber wo ist der Weg? Über lange Wegstrecken mussten wir uns durch dorniges Gestrüpp durchkämpfen und den Weg freischneiden. Die Wege wuchern hier in kürzester Zeit wieder zu, wenn nicht Gemeinden oder Privatpersonen sie ständig pflegen, sind sie schnell wieder verschwunden. Manchmal war sogar das GPS-Gerät machtlos bei der Spurensuche im mannshohen Farn oder im Dornengestrüpp, wir fühlten uns wie auf einer Dschungelexpedition. Römische Brücken über Flüsse und Schluchten – es galt sie zu finden, wenn man nicht die Auto-Straße benutzen wollte, aber insbesondere diese alten Sträßchen verlieren sich oft im Gestrüpp.

Je tiefer wir hinabstiegen, desto unglaublicher wurde es. War es oben noch heiß und trocken, herrschte unten eine dumpfe Feuchtigkeit, sie schien alles zu umhüllen. Weiche wattige Stille schluckt die Geräusche. Ein Meer von Brombeerstäuchern, Brennesseln und Farnen, Bäume auf Felsboden, die wie Gnome aussehen, wildes Durcheinander von herabgefallenen Steinen und Bäumen, das Unterholz mit lianenartigen, kraftvollen Schlingpflanzen und dazwischen wundervolle kleine Blumen in satten Farben, alles ist überwuchert und undurchdringlich. Dann wieder Strecken gut gepflegter alter Mulitracks, uraltes Pflaster, zwischen gemauerten Wänden bis zwei Meter Höhe aus Felsgestein mit einem Dach aus Bäumen, herrlicher Schatten bei 32 bis 35 Grad Sommerhitze. Ein erstaunlich heller und klarer Fluss mit wenig Wasser und glattgeschliffenem weißen Felsplateau ist zum ausruhen wie geschaffen, aber hier, wo man sich beruhigt für eine gute Pause niederlassen könnte fehlt jeglicher Schatten. Also müssen wir uns wieder zwischen Farnen und Bäumen durchschlängeln und über umgestürzte Bäume klettern. Ihre offen liegenden wilden Wurzeln haben riesige Wunden in das Felsgestein gerissen.

Der Pfad verläuft nie parallel zum Bach, denn da wäre kein Durchkommen. Der Weg führt von Höhe zu Höhe und von Kastell zu Kastell, immer tief hinunter und wieder hoch hinauf. Schon in haben in der Schule haben wir gelernt, dass in Italien die Dörfer wegen der Malariagefahr in den Sümpfen immer auf den Kuppen angelegt worden sind. So sind denn auch die meisten Kastelle heute gut befestigte Dörfer. Und wenn jemand glaubt in diesen alten unwirtlichen Gemäuern kann doch keiner mehr wohnen, der muss nur mal abends spät die Autos zählen, die sich dort einfinden! In den engen Gassen und auf jeder einigermaßen ebenen Fläche um den Ort herum parken sie, am nächsten Morgen sind sie früh wieder verschwunden. Der Tag beginnt hier bei der sommerlichen Hitze sehr früh, dafür ist am Mittag, wenn wir normalerweise ankommen alles wie ausgestorben, obwohl oben in den Dörfern noch ein verhältnismäßig kühlender Wind weht. Unten ist vom Himmel kaum etwas zu sehen, nur indirektes vielfach gebrochenes Licht in diesem Dschungel.
Ganz stecken geblieben sind wir allerdings nur zwei Mal. Wir überlegten ernsthaft, was nun? Zurück steil bergauf durch den Dschungel? Oder schneiden wir uns weiter durch die Wildnis, bis wir wieder in passierbares Gelände kommen? Hier reichte allerdings keine noch so gute Gartenschere mehr aus, es hätte schon eine Axt und eine Baumsäge sein müssen. Einmal fiel die Entscheidung für vorwärts. Zentimeter für Zentimeter haben wir und aus den Gefängnis herausgeschnitten, dann ein kurzer Absturz und es war geschafft. Die Blessuren blieben gering. Beim zweiten Mal fiel die Entscheidung für rückwärts leichter, weil in der Nähe ein geschotterter Weg erkennbar wurde. Allerdings ging der Weg dann auf Straßen rückwärts bis wir die blau gekennzeichneten Via del Volto Santo wieder gefunden hatten.
Wer uns heute fragt, ob wir es bedauern? Diese wundervollen alten Orte, diese herrlichen romanischen Kirchlein, diese Festungen auf den Bergkuppen, die Tiere unterwegs, die Pflanzen, der volle Mond über den Apuanischen Alpen, die Hunde, die ihn anheulten, wir möchten keins dieser Erlebnisse missen. Es war Abenteuer pur. Dabei verläuft nur wenige Kilometer weiter östlich die stärker begange „Via Francigena“ auch von Pontremoli über Lucca nach Rom, die auf diesem Teil wesentlich kürzer ist. Beide Wege sind uralte Handelsstraßen, schon aus keltischer Zeit bekannt und schon im 12. Jahrhundert schriftlich festgehalten. Für den Notfall hatten wir hatten ein Zelt dabei, aber Unterkünfte waren nirgendwo ein Problem, ein Zelt auf dem steinigen Boden aufzustellen war weitaus schwieriger.
Sogar an zwei Orten konnten wir das das „Volto Santo“ sehen und die Stadt Lucca hat uns ausnehmend gut gefallen, es war ein Höhepunkt (einer der vielen Höhepunkte). Wo immer wir ankamen haben wir Gastfreundschaft genossen, auch manchmal völlig unverhofft. Jetzt sind wir wieder heil und gesund zu Hause angekommen, um viele Erfahrungen reicher, oder besser „Erwanderungen“.

 

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